Blog von Äbtissin Christiana Reemts

Sehr lohnend ist der Film „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“. Malte Ludin setzt sich darin mit seinem Vater auseinander, der als SA-Offizier in der Slowakei für die Judendeportationen verantwortlich war. Dabei geht es nicht um die Geschichte des Vaters, sondern um die Art und Weise, wie seine Familie mit dieser Geschichte umgeht und wie schwer es ist, die eigenen Erinnerungen zu überschreiben („unser Vater kann das nicht gewußt haben“). Ich finde diesen Film aus denselben Gründen, aus denen ich die Bücher von Ruth Krüger lohnend finde, wichtig: Er liefert uns eine Folie für Überlegungen zu aktuellen Problemen.
 
Manchmal staune ich über das Wunder unserer Gemeinschaft. Ich bin seit 43 Jahren im Kloster und immer wieder frage ich mich voll Dankbarkeit, womit ich es eigentlich verdient habe, dass es 20 andere Menschen gibt, auf die ich mich bedingungslos verlassen kann. Ich finde das überhaupt nicht selbstverständlich, zumal ich weiß, dass viele andere Wohngemeinschaftsmodelle eine deutlich kürzere Lebensdauer haben.
Die Beziehung zu meinen Mitschwestern ist mit keiner anderen Beziehung zu vergleichen. Es fehlt die Vertrautheit, die man bei Geschwistern oder alten Schulfreunden empfindet und die selbst dann bleibt, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat, weil man verschiedene Wege geht. Es fehlt die Freiheit, die man bei Freunden hat und die darauf beruht, dass jeder sein eigenes Leben führt, man aber an dem des anderen teilhaben kannt. Trotzdem ist die Beziehung zu  meinen Mitschwestern nicht lose und oberflächlich wie zu Bekannten und Mitarbeitern, die wechseln können. Ich würde sie im Gegenteil tiefer als jede andere Bindung nennen, aber ihr „Bindemittel“ ist nicht Natur (wie bei Verwandten) und auch nicht freie Entscheidung und Sympathie (wie bei Freunden), sondern Christus selbst und so stehen sie mir am nächsten von allen Menschen.
 
Ich lese zur Zeit von Ruth Klüger „weiter leben“ und „unterwegs verloren“ und bewundere die Schonungslosigkeit dieser Frau, die den Mut hatte, ohne Rücksicht auf sich selbst die Dinge beim Namen zu nennen. Ruth Klüger (* 1931) kam mit 11 Jahren ins KZ und überlebte nur durch Zufall. Ihre Bücher sind keine Berichte über Nazi-Grausamkeiten, sondern Reflexionen darüber, wie man als Betroffene weiterlebt (sie war 14, als sie befreit wurde!) und vor allem, wie die Umwelt auf einen Menschen reagiert, der die KZ-Nummer trägt. Wenn sie diese im Sommer sichtbar werden ließ, indem sie kurzärmelige Blusen trug, wurde das als peinlich wahrgenommen, man wollte im Alltag nicht an solche Dinge erinnert werden.
Ich nehme wahr, dass strukturell dasselbe bei sexueller Gewalt der Fall ist, deshalb glaube ich, dass die Bücher von Ruth Klüger aktuell sind und man sie lesen sollte. Ich jedenfalls finde in mir einen großen Widerstand, mich mit dem Problem des Mißbrauchs wirklich auseinanderzusetzen, und ich glaube allen Veröffentlichungen zum Trotz nicht, dass ich die einzige bin, der es so geht.
 
Eben fiel mir ein Text von George MacDonald in die Hände, der bedenkenswert ist. Auf MacDonald wurde ich durch C.S.Lewis aufmerksam, der ihn immer wieder zitiert. Der Text hat den Titel „Unnötige Aufregungen“.
„Wir trüben unsre Aufmerksamkeit mit Kleinigkeiten, füllen die himmlischen Räume mit Gespenstern, vergeuden die himmlische Zeit mit Hast. Wenn ich mir wegen einer Kleinigkeit Sorgen mache, sogar einer eingestandenen Kleinigkeit, dem Verlust irgendeines unwichtigen Gegenstandes zum Beispiel, mein Gedächtnis anstrenge, im Haus das Unterste zuoberst kehre, nicht aus einer unmittelbaren Notwendigkeit, sondern aus Verdruß über den Verlust an sich; wenn ich ein Buch ausgeliehen und nicht zurückbekommen habe und der Name des Entleihers mir entfallen ist, so dass ich mich über das Fehlen eines Bandes aufrege, ist es dann nicht Zeit, dass ich einige Dinge verliere, da ich so unvernünftig an ihnen hänge? Der Verlust von Dingen ist ein Zeichen der Gnade Gottes: er soll uns lehren, sie fahren zu lassen. Oder ich habe einen Gedanken verloren, der irgendwie mit der Wahrheit zu tun hatte und versuche verzweifelt, ihn zurückzurufen, bin unglücklich, bis ich ihn wieder gefunden habe, vielleicht nur, um ihn noch weit mehr zu verlieren in einem Notizbuch, in dem ich nie mehr danach schauen werde! Ich vergesse, dass es Gott auf Lebendiges ankommt.“
 
Im Moment lese ich von Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, ein Buch, in dem Bonhoeffer an manchen Stellen geradezu prophetisch spricht:
„Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. Unser Kampf heute geht um die teure Gnade. Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament... Billige Gnade heißt... Sündenvergebung als allgemeine Wahrheit, heißt Liebe Gottes als christliche Gottesidee... Billige Gnade heißt Rechtfertigung der Sünde und nicht des Sünders. Weil Gnade doch alles allein tut, darum kann alles beim alten bleiben... Billige Gnade ist die Gnade, die wir mit uns selbst haben... Billige Gnade ist Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den lebendigen, menschgewordenen Jesus Christus.
Teure Gnade ist der verborgene Schatz im Acker, um dessentwillen der Mensch hingeht und mit Freuden alles verkauft, was er hatte; die köstliche Perle, für deren Preis der Kaufmann alle seine Güter hingibt... Teuer ist sie, weil sie dem Menschen das Leben kostet, Gnade ist sie, weil sie ihm so das Leben erst schenkt.... Teuer ist die Gnade vor allem darum, weil sie Gott teuer gewesen ist, weil sie Gott das Leben seines Sohnes gekostet hat – „ihr seid teuer erkauft“ –, und weil uns nicht billig sein kann, was Gott teuer ist.“