Blog von Schwester Christiana
In der Nacht starb unsere Schwester Gertrudis. Zufällig stieß ich eben auf ein Gedicht von Silja Walter, das ich mir für meine eigene Todesanzeige vorstellen könnte, das aber, wie ich finde, zum Tod jedes Christen passt:
Vom frühen Morgen an
lief ich
durch alle Türen
auf einen armen
Juden
zu
und fiel
als die Nacht kam
in die Sonne
Silja Walter
Heute haben wir „Einkehrtag“, d.h. einen stillen Tag, der arbeitsfrei ist und an dem wir frei sind für Gebet und Lesung, aber auch für meditative Wanderungen oder Radtouren. „Einkehren“ ist ein altertümlicher Begriff, der „sich auf sich selbst besinnen“ bedeutet, aber auch: „unterwegs in eine Gaststätte gehen“.
„Kehren“ weist darauf hin, dass man etwas oder auch sich selbst umdreht, und kommt vor in Wörtern wie „kehrtmachen“, „Kehrreim“, „Kehrseite“, „Umkehr“. „Einkehren“ hat dazu noch die Vorsilbe „ein“, es geht um das sich abkehren von dem Weg, auf dem man gerade ist, um in etwas (eine Gaststätte) oder auch in sich selbst hineinzugehen. In der Lebensbeschreibung des heiligen Benedikt, die Papst Gregor der Große verfasst hat, finden wir den Ausdruck „habitare secum“ – „bei sich wohnen“, der diese „Einkehr“ zur Voraussetzung hat. Gregor berichtet, wie Benedikt, nach einer kurzen Zeit als Abt eines schwierigen Klosters, dieses Kloster wieder verlässt und in die Einsamkeit geht. Gregor schreibt dazu: „Dann kehrte er an die Stätte seiner geliebten Einsamkeit zurück. Allein, unter den Augen Gottes, der aus der Höhe herniederschaut, wohnte er bei sich selbst“. Gregor erklärt im Fortgang seiner Dialoge, dass ein Mensch, der sich ständig im Äußeren aufhält, den inneren Kontakt mit sich selbst, den Mitmenschen und Gott verliert. „Sooft wir nämlich durch die Unruhe der Gedanken zu sehr aus uns herausgeführt werden, sind wir zwar noch wir selbst, aber nicht mehr bei uns selbst; denn wir verlieren uns selbst aus dem Blick und schweifen anderswo umher“. Wir verlieren die innere Verbindung mit uns selbst und damit zugleich auch die Verbindung mit Gott.
Der Ausdruck „in sich“ bzw. „zu sich gehen“ kommt in zwei biblischen Texten vor, die Papst Gregor zitiert (Lk 15,16f; Apg 12,11). Er macht darauf aufmerksam, dass das Bei–sich–Wohnen ein mittlerer Zustand ist, in dem wir versuchen müssen, nicht zu dem hin abzustürzen, was der heilige Benedikt „Treiben der Welt“ nennt. Den Aufstieg zu Gott dagegen können wir nicht „machen“, er ist Gnade, bei der Gott allein entscheidet, wem und wann sie geschenkt wird. Wir können diese Begegnung mit Gott durch keine Mystik und keine Askese erzeugen, das einzige, was wir tun können, ist bereit zu sein wie ein Türhüter, der auf das Kommen des Herrn wartet (vgl. Mk 13,34). Dazu dient ein Einkehrtag.
Bei den Nachrichten stolpere ich in letzter Zeit öfter über das Wort „warnen“, das immer häufiger gebraucht wird, um zu sagen, dass jemand gegen etwas ist oder eine Sache gefährlich findet. Dabei kommt der Ausdruck meistens gar nicht bei denen vor, die zitiert werden, sondern wird von Journalisten verwendet, um Äußerungen zusammenzufassen:
• Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck warnt vor einer deutlichen Preiserhöhung beim Deutschlandticket.
• Bundesaußenministerin Annalena Baerbock warnt vor einem Flächenbrand im Nahen Osten.
• Der Papst warnt vor den Gefahren der Künstlichen Intelligenz.
„Warnen“ heißt, jemanden auf eine Gefahr für ihn hinweisen und ihm dadurch raten, sich vorzusehen. Oder es kann bedeuten, jemanden drohen, um ihn daran zu hindern, etwas Bestimmtes zu tun („ich warne dich!“). Was mich irritiert, ist, dass es oft niemanden gibt, der gewarnt wird bzw. dass dieser Jemand sehr abstrakt bleibt. Auch, was man tun soll, um der Gefahr zu entgehen, bleibt im Dunkeln. So entsteht durch diesen häufigen Gebrauch von „warnen“, ein diffuses Klima der Bedrohung, das meines Erachtens unserer Gesellschaft nicht gut tut.
Schon vor vielen Jahren habe ich „Das denkende Herz der Baracke“ der niederländischen Jüdin Etty Hillesum gelesen und in diesem Jahr den wunderbaren Film von Peggy und Thomas Henke „Samstagmittag, 12 Uhr mit der Schauspielerin Martina Gedeck, nach den Tagebüchern von Etty Hillesum“ gesehen. Jetzt las ich die Gesamtausgabe der Tagebücher und Briefe von Etty Hillesum, „Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941-1943“, ein irritierendes Buch. Über Hunderte von Seiten begleitet man eine junge Frau (28) dabei, wie sie sich um sich selbst, ihre Liebesbeziehung zu zwei viel älteren Männern und um ihre Krankheiten dreht und fragt sich immer wieder, was einen das alles eigentlich angeht. Doch immer läuft eine andere Frage mit, die gegen Ende ganz laut wird, die Frage nach Gott und nach dem Sinn der Lebens. Obwohl Etty Hillesum keine praktizierende Jüdin ist, findet sie zu einem tiefen, vertrauenden Glauben an Gott und zur Überzeugung, dass das Leben trotz allem schön und lebenswert ist. Dabei fand ich die Briefe, die sie aus dem Sammellager Westerbork schrieb, von dem aus die niederländischen Juden nach Auschwitz deportiert wurden, fast noch eindrücklicher als die Tagebücher. Sie schildert alles in seiner unfassbaren Unmenschlichkeit und zugleich kommen immer wieder Sätze vor wie: „Und trotzdem ist das Leben in seiner unfassbaren Tiefe so gut“ (5 Tage vor ihrer eigenen Deportation!). Diese Texte sind ein kaum zu verarbeitendes Zeugnis der Grausamkeit der Menschen und zugleich ein Zeugnis unfassbarer menschlicher Größe.
Vorgestern hatten wir einen Studientag zum Thema: „Liebe als Vollendung des Menschseins. Der Traktat De caritate des Thomas von Aquin“. Außer uns Schwestern nahmen auch viele Gäste teil, worüber ich mich gefreut habe, denn im Vorfeld dachte ich eher nicht, dass ein solches Thema viele interessieren würde. Es war ein sehr intensiver Tag der Thomaslektüre, den ich natürlich hier nicht zusammenfassen kann. Als wichtiger Gedanke bleibt mir, dass Thomas die Liebe eher von der „unitas“ (Einheit des Menschen) als von der „unio“ (Verschmelzung) her denkt. Der Mensch kann umso mehr lieben je geeinter, je ganzer, je heiler er in sich ist, denn nur so ist er davor bewahrt, den anderen zu vereinnahmen. Das gilt selbst für die Gottesliebe, auch hier ist nicht die Verschmelzung mit Gott das Ziel, sondern die eigene Personwerdung, um so als freier Mensch in der Gemeinschaft des dreifaltigen Gottes zu leben.
Der Mann, der den Schatz im Acker haben wollte, musste das ganze Feld kaufen. Das dürfen wir nicht vergessen! Wie oft versuchen wir, uns das Beste aus einer Sache herauszupicken -„den Schatz“ - und ärgern uns über die Erde und die Steine. Doch das ist unreif und undankbar. In jeder Beziehung, und sei es die zu Christus und seiner Kirche, in jeder Aufgabe, in jedem Geschehen gibt es sowohl den Schatz wie auch den Acker, der ihn birgt. Freuen wir uns über den Schatz, aber seien wir auch dankbar für den Acker, der uns als zu bewältigende Aufgabe nun auch gehört.